Schockierendes Erlebnis am Wochenende:
so sah´s ungefähr aus

Deeskalation ist im polizeilichen Diskurs ein dehnbarer Begriff geworden, er wird manchmal so weit gefaßt, daß man nicht mehr zwischen deeskalativen und konfrontativ-repressiven Einsatzkonzeptionen unterscheiden kann. (Martin Winter / Soziologie / Uni Halle)

Nach einer kleinen Feldforschung scheint mir dem auch so.

Etwa einmal im Jahr findet in unserer beschaulichen Kleinstadt ein Naziaufmarsch statt. Da ich diesen Menschen nicht wohlgesonnen bin, sind wir Morgens zur Gegendemonstration, die einige Stunden vor und örtlich getrennt von der Nazidemo stattfand. Wenn man nun lediglich friedlich vorhatte, einige Buh-Rufe an das Ohr der (gar nicht so stereotyp glatzköpfigen und springerbestiefelten) Neonazis zu richten, dann hatte man einen schweren Stand.

Vor meiner eigenen Schilderung, hier ein Link zu einem ganz guten Presseartikel aus Luxemburg.

So ein Aufgebot habe ich hier noch nie gesehen: Nach offiziellen Angaben 1000 (!) Polizisten aus dem ganzen Bundesgebiet, Hubschrauber, zig Einsatzwagen und 4 Wasserwerfer (die aber nicht zum Einsatz kamen). Und das bei einer Veranstaltung von 60-70 Neonazis und vielleicht 300 Gegendemonstranten. Sicher gab es unter den Gegnern auch ein paar, die den Nazis mehr als nur verbal deutlich machen wollten, dass sie hier unerwünscht sind. Klar ist, dass die Polizei die Demonstranten deshalb vor tätlichen Übergriffen zu schützen hat.

Das Vorgehen der Ordnungsmacht fand ich aus meiner Perspektive jedoch gelinde gesagt unangemessen. An einer Kreuzungsmündung, die auf der Demoroute lag, stand eine 3er Reihe Polizisten in voller Einsatzmontur und sperrte alles ab. Dahinter eine weitere Hundertschaft und zig Wagen. Davor sammelten sich 100-150 Demonstranten, die friedlich blieben. Die Art und Weise, wie die Polizei dann weit vor der Ankunft der Nazis die Straße räumte, machte einem Angst: Da wurde ohne irgendeine Vorwarnung sehr rüde und unter Blutvergießen vorgerückt – alte Männer und kleine Mädchen, egal -, so dass man denken musste, dass man auch was abkriegt, wenn man nur ein wenig Pech hat. Vielleicht kennt man mit der Zeit gewisse Spielregeln des Räuber- & Gendarmespiels, wir waren auf jeden Fall überfordert und sehr schockiert über das martialische Gebahren. Nachdenken darüber konnten wir in den 2 Stunden, in denen dann alle in einer Seitenstrasse eingekesselt wurden. Da waren auch einige Passanten darunter, die mit der Demo gar nichts zu tun hatten.

Zurück bleibt zweierlei: Dass man erkennt, trotz aller Kenntnis über Eskalationen bei Großdemonstrationen, mit zu großer Naiviatät an Ereignisse im eigenen kleinstädtischen Umfeld heranzugehen. Und dass man daran zweifelt, welche Artikulations- und Beteiligungsmöglichkeiten einem denn nun wirklich offen stehen.

Die polizeiliche Behandlung und Kontrolle von Protestierenden […] hat großen Einfluß auf die Chancen von politischen Gruppierungen, sich jenseits der parlamentarischen ‚Bühne‘ zu artikulieren, Sympathisanten zu mobilisieren, Meinung zu bilden und politischen Druck auszuüben. Die Frage, ob die Polizei sich als grundrechts- und damit versammlungsfreundliche ‚Bürgerpolizei‘ oder als etatistisch-autoritäre ‚Staatspolizei‘ versteht, hat Auswirkungen auf die Qualität des demokratischen Willensbildungsprozesses. Die Art und Weise, wie die Polizei mit Demonstranten umgeht, kann als ein sichtbarer Indikator der politischen Kultur und der Staatsverfassung gewertet werden. ( Winter/ / Uni Halle)

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